Patientenorientierte Prophylaxe

Patientenorientierte Prophylaxe

Einleitung

Patientenorientierte Prophylaxe – was soll das denn? Ist denn nicht alles was der (Zahn)Arzt tut patientenorientiert? Nein, ist es nicht, ist die klare An

twort!

Zuvörderst ist jeder Arzt oder Zahnarzt in Deutschland ziemlich starren Regeln unterworfen: KV/KZV, Kammer, Beihilfe und Privatversicherung – alle regieren in die (zahn)ärztliche Tätigkeit hinein. Die Vorgaben dazu liefert die Politik, die traditionell einen besonders starken Einfluss auf das Gesundheitswesen in Deutschland ausübt. Dies entspricht einem althergebrachten Sozialstaatsprinzip, das insbesondere in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gewisse Übertreibungen erfahren hat, um die Bevölkerung ruhig zu stellen und für die Regierung einzunehmen (z.B. Aly, Götz, Historiker). Ehrlichweise muss man auch heute feststellen, dass der Sozialstaat nach wie vor diesem Zweck dient – Reformer wie der Altkanzler Schröder werden durch Abwahl abgestraft, so dass der Mut der Politik, an diesen vermeintlich heiligen Prinzipien zu rütteln, kaum vorhanden ist.

Da „sozial“ in jeder öffentlichen Debatte eine so bedeutende Rolle spielt sind Änderungen nur sehr langsam voranzutreiben. Die Korrekturen der letzten Jahre, die zweifellos zum Nutzen Aller durchgesetzt worden sind, kamen Großteils von Seiten der Justiz, die ihre Unabhängigkeit damit demonstrieren konnte.

Diese einleitenden Worte dienen dem Zweck ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass zahnärztliche Therapie oder Prophylaxeleistungen nicht rein wissenschaftlich/fachlich-medizinisch, sondern immer im Kontext mit politischen Vorgaben bestimmt sind. Bei einer nüchternen Betrachtung wird man sogar zum Schluss kommen, dass die politischen Vorgaben überwiegen. Daraus folgt naturgemäß, dass der medizinische Aspekt sich dem Primat der Politik – SGB V, ZHG, Richtlinien, Prüfvereinbarungen, GOZ, usw. – unterzuordnen hat. Und dies muss logischerweise Einfluss auf die Therapie- und Prophylaxekonzepte haben.

Die Wissenschaft hat solide Beweise dazu geliefert dass es stark unterschiedliche soziale Schichten gibt. Dabei wurde festgestellt, dass bestimmte soziale Schichten eher Krankheiten aufweisen als andere, ebenso konnte nachgewiesen werden, dass das Prophylaxeverhalten große Unterschiede zeigt (z.B. RKI Gesundheitssurvey, DMS IV, usw.). So kann subsummiert festgestellt werden:

Niedere soziale Schicht = hohes Risikoverhalten (mangelhafte Prophylaxe, Rauchen, Adipositas, Bewegungsmangel, wenig Gesundheitsbewußtsein, hohe Karies- und Parodontitisprävalenz) = geringe Bildung = Armut.

Besser gestellte Bürger höherer Schichten zeigen hier gravierende Unterschiede – da ist das Gesundheitsverhalten durchweg deutlich besser.

Dies sind statistische Daten, die im Einzelfall durchaus ein anderes Bild eines Patienten ergeben können. Allerdings zeigen solche statistischen Daten einen Trend, der auch dadurch belegt werden kann, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung für cá 70 % der Gesundheitsausgaben stehen (z.B. Statistisches Bundesamt, RKI Gesundheitssurvey), was dazu geführt hat, dass wir von einer „Schiefverteilung“ der Gesundheitsrisiken sprechen müssen.

Will man nun eine patientenorientierte Prophylaxe umsetzen, müssen solche Informationen in die Planung eines Konzepts einfließen, da man sonst leicht an den Patienten vorbei tätig wird.

Dabei geht es nicht nur um einen möglichst effektiven Umgang mit den begrenzten finanziellen Ressourcen, zu dem der Zahnarzt kraft SGB V („Wirtschaftlichkeitsgebot“) verpflichtet ist und der durch Prüfanordnungen der eigens dafür eingerichteten Prüfstellen überwacht wird, es geht auch um einen möglichst großen Effekt auf die Patienten selbst. Ohne Berücksichtigung des sozialen Hintergrunds und insbesondere des Bildungshorizonts ist eine patientenorientierte Prophylaxe kaum vorstellbar, wie ebenso auch eine adäquate Therapie.

Praktische Umsetzung

In Praxen mit einem hohen Anteil an sozial schwachen Patienten ist Prophylaxe ein wesentlich wichtigeres Thema als in Praxen mit gut situierten Patienten. Denn, hier kommen die politischen Vorgaben zum Tragen, ohne adäquate Prophylaxe entsteht ein relativ hoher Behandlungsbedarf, und diese Praxis kommt dann unweigerlich in die Prüfung wegen Unwirtschaftlichkeit. Die Alternative, die Behandlung einfach zu verweigern und den Fallwert damit dem Landesdurchschnitt anzupassen, ist aus ethischen Gründen schwer zu vertreten. Die andere Alternative, einfach ohne Bezahlung tätig zu werden, verbietet sich ebenso, da die Honorare in der GKV so üppig nicht sind, um dies bewerkstelligen zu können. Die dritte Alternative, die Verluste aus der Behandlung von Sozialpatienten einfach durch entsprechend höhere Rechnungen bei Privatpatienten auszugleichen, ist erstens extrem unmoralisch, zweitens gerade bei Praxen in sozialen Brennpunkten per se unmöglich – dorthin verirrt sich kaum ein gut Betuchter – und fällt so auch als unrealistisch weg.

Es bleibt vernünftigerweise nur die Möglichkeit, auch solche Patientenkreise für die Prophylaxe zu gewinnen, die laut Statistik einem gesundheitsbewußten Leben eher abgeneigt sind. Hierbei ist die Kariesprävalenz im Vordergrund – und hier muss insbesondere bereits bei Kindern aus den sozial schwachen Familien angesetzt werden. Bei schulzahnärztlichen Eingangsuntersuchungen finden sich Sechsjährige mit vielen ausgedehnten kariösen Läsionen –typischerweise Kinder aus der sozialen Unterschicht -, die dringend wirksamen Prophylaxekonzepten zugeführt werden sollten. Ebenfalls typischerweise greifen gruppenprophylaktische Maßnahmen bei dieser speziellen Gruppe nicht, da diese (häufig aus Migrantenfamilien) Einrichtungen wie Kindertagesstätte oder Kindergarten gar nicht besuchen. Dort jedoch werden Grundlagen für die Prophylaxe gelegt, dort findet die Gruppenprophylaxe hoch effektiv statt. Und in der Grundschule können die gruppenprophylaktischen Defizite nicht mehr aufgeholt werden.

Patienten aus besserem sozialem Umfeld setzen heute die Prophylaxe weitgehend um – die Kariesinzidenz nimmt kontinuierlich großflächig ab. Allerdings hat (DMS IV) die Parodontitis an Bedeutung gewonnen. Es besteht also ein noch bedeutender Bedarf an Aufklärung bzw. Prophylaxekonzepten auch für diese Bevölkerungsschicht.

Denkbare Konzepte

Bei der Anamnese bzw. bei der Patientenaufnahme sind sozialer Stand sowie Bildungslevel zu erfassen. Damit erreicht man zweierlei: man kann die für den Patienten „richtige“ Sprache wählen, und, man kann sich bereits an dieser Stelle gegen mögliche Prüfanordnungen und Regresse Argumente auf Vorrat schaffen. Damit haben sowohl Patient als auch Praxis einen Vorteil.

Nun kann man je nach Ausrichtung der Praxis entscheiden, ob man die „kleinere“ Gruppe vernachlässigt bzw. kein darauf maßgeschneidertes Konzept anwenden will und sich auf den „großen“ Teil des Patientenguts konzentriert, oder, ob man eben auch die Minderheit gewinnen will – dazu muss man dann aber unterschiedliche Programme entwickeln und auch umsetzen. Dazu müsste dann logischerweise schon von Beginn an eine Patientenselektion stattfinden. Diese Vorgehensweise hätte einen besonderen Reiz: man muss nicht vollkommen fremde Patienten gewinnen – in der Praxis findet sich dann ein Potenzial an „neuen“ Patienten, die nur ein anderes Therapie- und Prophylaxeprotokoll benötigen. Damit kann man völlig neue Ressourcen schöpfen.

Man kann auch nach Belieben Subpopulationen generieren und darauf spezifische Konzepte anwenden. Wichtig scheint jedoch an dieser Stelle darauf zu verweisen:

Es gibt nicht „die Patienten“, sondern, das Patientengut setzt sich sehr inhomogen zusammen, und je differenzierter man sich auf diese einstellt, desto erfolgreicher wird man sein können.

Nun wäre es eine Illusion die Angelegenheit so weit zu treiben, dass man für jedes Individuum ein eigens Konzept erstellt, dies erscheint unmöglich bzw. nie mit einem vertretbaren Aufwand umsetzbar. Andererseits ist das Arbeiten mit standardisierten Therapie- und Prophylaxeprotokollen erforderlich, um den Kriterien eines praxisinternen QM, wie es vorgeschrieben ist, zu entsprechen und durch Prüfanordnungen ausgelöste Regresse zu vermeiden.

Das Dilemma lässt sich vermutlich nur dadurch lösen, dass man eben nur große Gruppen bildet (z.B. sozial Schwache und sozial besser Gestellte, Kinder, Jugendliche, Senioren – jeweils den großen Gruppen als Subpopulation zugeordnet -, als eigene Gruppe Migranten, dann Subpopulationen nach Bildungsstand – z.B. Akademiker und Ungelernte, als besondere Extreme -, usw.), dies je nach Engagement der Praxis in ausdifferenzierter Weise oder eben nur als zwei ganz große Gruppen, siehe oben. Erfassen wird man die gruppenspezifischen Merkmale allemal, da Prüfbescheide stets von einem „Durchschnitt“ ausgehen, und eine „durchschnittliche Praxis“ muss dann auch ein durchschnittliches Patientengut haben. So etwas wird es immer weniger geben, da sich insbesondere unter dem Einfluss einer starken Migration auch regional massive Unterschiede ergeben – ein Bezirk Berlin Kreuzberg hat nun einmal andere Bewohner als z.B. Prenzlauer Berg.

Zur Ausarbeitung eines tragfähigen Konzepts gehört auch, dass man sich z.B. heimatsprachliche Mitarbeiter in die Praxis holt, da die Sprachfähigkeit der Migranten z.B. häufig sehr eingeschränkt ist – komplizierte Sachverhalte können ohne muttersprachliche Unterstützung kaum vermittelt werden. Informationsblätter in den entsprechenden Sprachen können da ein äußerst nützliches Vehikel sein, wobei dabei auch auf kulturelle Besonderheiten Rücksicht genommen werden muss. Beispielsweise lehnen streng gläubige Islamisten jegliche Bildung für Frauen und Mädchen ab – damit muss man dann auch erst einmal zu Recht kommen.

Es gibt Regionen mit bereits über 60 Prozent Migranten, in anderen finden sich weniger als 20 Prozent. Eine einheitliche Bevölkerungsstruktur gibt es nach den großen Zuwanderungswellen definitiv nicht mehr. So muss jede Praxis sich selbst Rechenschaft darüber geben, wie das Patientengut strukturiert ist: Migrantenanteil, Herkunftsländer (wegen der Sprache!), soziale Schichtung (Bildungshintergrund) sind heute wichtiger als die Altersstruktur. Leider sind dazu kaum Zahlen der öffentlichen Statistikämter zu erhalten, insbesondere ist es schwierig, die Mikrostrukturen (also die regionale Ungleichverteilung) zu erfahren. Damit sind die bisherigen Urteile der Bundesrichter Makulatur – in diesen wird von einer „Vergleichbarkeit“ des Patientenguts ausgegangen, die es jedoch nach eindeutigen Aussagen der Wissenschaft nicht gibt (RKI-Gesundheitssurvey, DMS IV, usw.).

Neben der für die Abrechnungsprüfung relevanten Erfassung der Patientenstruktur ist diese auch, wie oben ausgeführt, von enormer Wichtigkeit für das richtige Prophylaxekonzept, das „individuell“ auf die Patientengruppen zugeschnitten sein muss, um eine Chance auf Erfolg zu haben.

So wäre für Migranten und Patienten aus der sozialen Unterschicht eine Prophylaxeaufklärung eher bildlich (z.B. Video, Bildmaterial, Bildgeschichten/Comics) und weniger rational-textlich (Aufklärungsbroschüren) wie bei dem Großteil der Bevölkerung angebracht.

Diese Vorgehensweise scheint zwingend – die Politik fördert die Ungleichheit eher als dass sie sie überwinden hilft. Es werden kaum oder gar nicht Anreize gegeben, etwas zu ändern – die Motivation bleibt auf der Strecke. Dies ist besonders deutlich im Bildungsniveau zu sehen: Kinder aus Migranten- oder Unterschichtfamilien haben deutlich geringer Bildungschancen, wie die OEC beklagt, solche straken Hemmnisse ein Schicht zu wechseln sieht diese internationale Organisation nirgends so massiv wie in Deutschland. Dazu haben die diversen PISA-Studien ebenfalls starke Beweise geliefert.

Es ist jedoch einfach unmöglich, Menschen aus bildungsfernen Schichten von der zahnärztlichen Prophylaxe fernzuhalten, so etwas rächt sich spätestens bei der Prüfungsanordnung wegen Überschreitung des Landesdurchschnitts. Er einzelne Zahnarzt kann derzeit wenig Rücksicht der Prüfgremien und Sozialgerichte erwarten – es wird Jahre wenn nicht Jahrzehnte dauern bis hier ein Umdenken stattgefunden hat.

Andererseits sind diese Patienten kaum irgendwelchen privaten Zusatzleistungen zugänglich – der Zahnarzt muss also mit dem GKV-System zurechtkommen. Hier sind spezielle Prophylaxeprogramme nötig, auch wenn man dabei vermutlich keine Kostendeckung erreichen kann.

Insbesondere wäre es anzudenken, ob nicht im Bezirk Kollegen sich in Eigeninitiative zusammenschließen und Prophylaxekurse gemeinsam anbieten. Dabei könnte man größere Gruppen finden, die in einer gemeinsamen Sprache unterrichtet werden könnten, ggflls. auch nach Geschlechtern getrennt, wie von den archaisch Religiösen gefordert. So könnten auch Mädchen und Frauen aus den rückständigen Zuwanderungsgebieten eingebunden werden, die derzeit vollkommen außen vor sind. Wir müssen auf die Patienten zugehen und sie zur Prophylaxe abholen – dies ist der wichtigste Gedanke dabei. Denn: die Zahlen sprechen für sich – 20 Prozent der Bevölkerung 70 Prozent der Behandlungskapazität, und das auch noch schlecht verteilt, das lässt sich nicht mit wegsehen erledigen …

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