Prophylaxe – neu definiert

Prophylaxe, ein erschöpfend behandeltes Thema? Mitnichten! Der Zugewinn an Erkenntnis in der Wissenschaft  betrifft auch die Zahnheilkunde, die korrekterweise gar nicht mehr „Zahnmedizin“ heißen sollte, ebenso wie der Begriff „Zahnarzt“  falsche Assoziationen hervorruft. Der „Zahnarzt“ muss sich heute als „Facharzt für Zahn-Mund- und Kieferkrankheiten“ verstehen, mit bereits fest etablierten Sonderuntergruppen, wie Facharzt für Kieferorthopädie, Oralchirurgie und Kieferchirurgie, Endodontie, Parodontologie, usw. Nebst diesen aus der traditionellen Zahnheilkunde entnommenen Begriffen sollte sich der Facharzt für den Oralbereich sehr wohl auch mit bisher nur der Allgemeinmedizin zugeordneten Themen befassen: Adipositas, Essstörungen anderer Art, wie Bulimie oder Anorexie (Adipositas ist auch eine Form der Essstörung: was die einen zu wenig essen, essen die Adipösen einfach nur zu viel!), Reflux, Diabetes, um nur einige wichtige zu nennen. Die Befundung und anamnestische Erhebung solcher Krankheitsbilder ist von enormer Bedeutung. Nehmen wir einfach das Beispiel Reflux – regelmäßiger saurer Reflux (ausgewiesen durch eine Entleerung sauren Mageninhalts in die Speiseröhre bis hin in den Mundbereich) wird mit der Entstehung von Ösophaguskarzinomen in Verbindung gebracht –hier kann der aufmerksame Oralmediziner ebenso lebensrettend sein wie bei einer frühzeitigen Erkennung von Diabetes. Der zahnärztliche Befund mit der Verdachtsdiagnose „Reflux“ resultiert aus typischen Verätzungen der oralen Flächen der Zahnsubstanz mit deutlichem Verlust an Zahnhartsubstanz bis hin zur Freilegung des Dentins. Als Differentialdiagnose käme die Bulimie infrage, die ein ähnliches Bild zeigt. Solche Defekte kann der Zahnarzt vernünftigerweise nicht übersehen – und im Rahmen der oralmedizinischen Tätigkeit gehört dies zum selbstverständlichen Bereich zahnärztlicher Prophylaxe, wobei hier zweifach prophylaktisch gewirkt werden kann: dem Patienten wird möglicherweise eine Tumorerkrankung erspart, und der Zahnarzt muss nicht sinnlos Kronen auf ansonsten gesunde Zähne setzen. Analog gilt dies z.B. für den Diabetes: der Oralmediziner sieht sehr früh entzündliche Veränderungen der Gingiva. Wenn trotz erkennbar guter Mundhygiene (kann man leicht mittels Plaqueindex bestimmen) Entzündungszeichen persistieren muss abgeklärt werden:

–          Liegt eine vorher übersehene Parodontitis vor (parodontale Taschen kann kein Patient reinigen!)?

–          Finden wir eventuell eine Graviditätsgingivitis? Kann es sich um eine Nebenwirkung eines Antikonzeptiva-Pharmakons handeln?

–          Oder ist eine Allgemeinerkrankung die Ursache, als da sind Diabetes (!), Leukämie, HIV/Aids, etc.

Bei geschätzt etwa 8 bis 10 Millionen Diabetikern in Deutschland mit einer großen Dunkelziffer an unerkanntem Diabetes  wäre die frühzeitige Diagnose von enormer Wichtigkeit, weit über das eigentliche Tätigkeitsgebiet des Oralmediziners hinaus.

Die einleitenden Worte sollten das Bewusstsein des Facharztes für Zahn- Mund und Kieferkrankheiten zumindest so weit erreicht haben dass er/sie den Begriff „Prophylaxe“ universeller ansieht als ausschließlich „Zahn“-bezogen. Zahnbefund und aus – das ist Geschichte. Heute zielt die Tätigkeit des Oralmediziners auf ein eher ganzheitliches Konzept – neben Zähnen war schon immer die gesamte Mundhöhle, einschließlich Zunge (!), Wangen, Mundboden, Anhangsgebilden, wie salivatorische Drüsen (Parotis, Unterzungendrüsen) sowie nicht zu vergessen das Kiefergelenk stets Aufgabengebiet des „Zahnarzts“. Hinzugekommen sind die Kieferhöhlen, dies ein Resultat der Implantologie. Und zunehmend wird (auch immer schon Tätigkeitsgebiet des Oralmediziners) die Parodontologie zum Schwerpunkt. Dies ist den Entwicklungen geschuldet: es gibt weniger Karies, aber immer mehr Parodontitis.

Neben diesen eher „mechanistischen“ Aufgaben gewinnt die Sozialmedizin bzw. Soziologie an Bedeutung. Alle verfügbaren Daten zeigen: die schon seit den 90er Jahren intensiv diskutierte „Schieflage“ der Morbidität hat an Wucht gewonnen – alle prophylaktischen Anstrengungen sind ohne wirklichen Effekt verpufft, da die Erfolge bei 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung durch die 10 bis 20 Prozent der Intensivkranken zunichte gemacht werden.

„Die Welt“ berichtet in ihrer Wochenendausgabe (19. Januar) zu einer Studie der Unternehmensberatung KPMG, der zufolge das deutsche Gesundheitswesen extrem teuer sei, jedoch nur recht bescheidene Ergebnisse liefere.

Deutschland schneidet bei diesem internationalen Vergleich demnach schlecht ab: Obwohl Kassen und Patienten hierzulande so viel Geld ausgeben, liefern Ärzte und vor allem Kliniken nur mittelmäßige Leistungen. Die Untersuchung liegt der „Welt“ vor. Lediglich die Niederlande und Frankreich gäben (gemessen am BDP) mehr aus als die Bundesrepublik. Dabei sei z.B. die Sterblichkeit bei Mammakarzinom in Deutschland unerreicht hoch – es wird die Forderung erhoben, dem Missstand abzuhelfen, der ja seit den 80er Jahren stets Diskussionsstoff geliefert hat.

Leider wird nun, wie immer schon, geschlossen, das deutsche Gesundheitswesen sei ineffektiv wegen Mängeln der „Leistungserbringer“ anstatt zu hinterfragen was denn auf Patientenseite an Ursachen vorliegen könnte. Es ist mittlerweile in der Wissenschaft unbestritten, dass sozial Schwache (heute sagt man lieber „Benachteiligte“) generell laut statistischem Nachweis massiv mehr Krankheiten aufweisen und früher sterben, daneben aber weit überdurchschnittliche Kosten für das Gesundheitswesen auslösen. Eine weitere kostenträchtige Subpopulation konnte mit den Migranten identifiziert werden.

Prophylaxeanstrengungen müssen deshalb auf diese Zielgruppen konzentriert werden. Es ist schlicht Unsinn alle Präventionsbemühungen auf den großen Kreis der „Normalpatienten“ zu richten, um dann einen kleinen Prozentbetrag an Verbesserung zu bewirken, wenn die großen Erfolge bei den o.a. Patienten erzielbar wären und sind.

Neuerdings gibt es weitere Problem Felder: die „Bio“ Generation will „alternativ“ leben und lehnt Wissenschaft per se als verlogen und unglaubwürdig ab. Stattdessen wendet man sich der „Esoterik“ und anderen alternativen Richtungen  zu  – dem Heilpraktiker schenkt man in diesen Kreisen mehr Glauben als dem studierten Arzt. Die „Öko“-Bewegten vorenthalten ihren Kindern eine seriöse Zahnpflege, weshalb bei diesen inzwischen ebenfalls ein massiver Anstieg der Zahnmorbidität beobachtet wird (vergl. Universität Marburg, Abt. für Kinderzahnheilkunde). Honig wird als „gesund“ propagiert, mit der Folge, dass wir schon wieder die ausgestorben geglaubte  Babyflaschen Karies finden („Nursing Bottle Syndrome“). Erschwerend ist im Zeitalter des Internet, dass es Gurus gibt, die Unsinn verbreiten (Beispiel: https://newstopaktuell.wordpress.com, Zitat: „Ausgerechnet der Mensch aber, der seine Zähne pflegt und fleißig putzt, hat die meisten Probleme mit zerstörten Zähnen. Das ist kein Zufall, sondern logisch Folge der vermeintlichen Pflege. Fluor/Fluorid ist gut für die Zähne – eine der größten Gesundheitslügen. Usw.“

Hier wird Fluorid als schweres Umweltgift diffamiert das Zähne zerstöre statt sie zu schützen, wobei perfide unterstellt wird, die Zahnärzte würden zu Fluorid raten um „bessere Geschäfte“ mit defekten Zähnen machen zu können.  So etwas glaubt der wenig Gebildete gerne, entspricht es doch den Schemata von Verschwörungstheorien. Da hetzt der Autor dann, nur Fluoridfreie Zahnpflegemittel seien akzeptabel. Da naturwissenschaftlicher Unterricht in den Schulen noch weniger gewichtet ist als früher fallen solche Parolen auf gläubigen Boden. Auch (Zahn)Ärzte – man möge die Kritik verzeihen – sind nicht sehr naturwissenschaftlich orientiert, als am schwersten empfundenes Fach ist ausgerechnet Chemie. Nur, die würde helfen, den Unsinn o.a Parolen zu entlarven. Die Folge von vermehrtem Honigkonsum und Fluoridabstinenz ist natürlich das vermehrte Auftreten von kariösen Erkrankungen. Um dem Ganzen dann das Sahne Häubchen aufzusetzen wird eine adäquate zahnärztliche Therapie ebenso verweigert. Bei Karies-Hochrisiko-Gruppen verbietet sich der Einsatz von Komposit, das wissen nur noch ältere Kollegen, die jüngeren sind ganz selbstverständlich mit Komposit aufgewachsen. Dabei ist bei kariesaktiven Patienten immer noch Amalgam das ideale Füllungsmaterial, da es prophylaktische Wirkungen zeigt (im Umfeld einer Amalgamfüllung wird die Plaque messbar reduziert und das Risiko von Sekundärkaries minimiert). So erleben wir aktuell eine Trendumkehr: insgesamt nehmen Karieserkrankungen schon wieder zu, wir haben wohl den Peak der Prophylaxewirkung erreicht – und die Zahl der Ökos nimmt weiter zu. Statistisch werden wir also wieder eine Zunahme auch der Karies finden, dies wird die aktuell erhobene Mundgesundheitsstudie zweifelsfrei zeigen, nachdem – wie oben ausgeführt – wissenschaftliche Erhebungen bereits erste Anzeichen dafür  erkennen ließen.

Zu der wieder steigenden statistischen Kariesmorbidität kommt das zunehmende Lebensalter mit einem noch weiter steigenden Risiko für parodontale Erkrankungen sowie der Notwendigkeit für Zahnersatz, bei gleichzeitig weiter schrumpfenden Etats.

Was bedeutet dies für den Oralmediziner?

–          Prophylaxe muss auf die Risikogruppen konzentriert werden, denn da sind die großen Erfolge zu erreichen

–          Angehörige von Risikogruppen (Naturbewegte, Migranten, sozial Benachteiligte) müssen identifiziert werden, um sie speziellen Prophylaxeprogrammen zuführen zu können

–          Prophylaxe muss einem universalen Anspruch auf Gesundheitsvorsorge entsprechen und solche Krankheitsbilder, wie Diabetes, Osteoporose, Reflux, Essstörungen, Immunschwächen, Geschlechtskrankheiten (v.a. Syphillis) mit berücksichtigen, die ein Oralarzt als erster im Frühstadium erkennen kann

–          Prophylaxe muss versuchen, den Anstieg der Kosten zu hemmen – die Etats sind festgezurrt und kaum zu vermehren, da muss dafür Sorge getragen werden, dass zumindest die Morbidität gebremst wird

–          Und natürlich muss eine Erhaltungsstrategie greifen, d.h., das erreichte bei der Mehrzahl der Bürger muss gehalten werden

Risikogruppen

Naturbewegte

Nachdem diese den (Zahn)Ärzten wenig bis gar keinen Glauben schenken und an ihrem wirren Gedankengut festhalten, müssen alternative Möglichkeiten der Prävention gefunden werden. Hier wäre daran zu denken alte Rezepte wieder zu aktivieren: Bikarbonat („Hausnatron“, Baking Soda) wirkt zumindest etwas neutralisierend und könnte so schädliche Wirkungen des Zuckers aus Honig zumindest etwas eindämmen. Zur möglichst effektiven Plaqueentfernung sollten Ultraschall-aktivierte Zahnbürsten empfohlen werden – Handzahnbürsten wirken nur dann prophylaktisch, wenn sie in Verbindung mit effektiven Mundprophylaktika (Fluorid, Desinfizientien )eingesetzt werden – dazu, falls akzeptiert, Mundspülungen mit ätherischen Ölen (z.B. Listerine). Eine Ernährungsberatung hinsichtlich der Schädlichkeit von Honig ist m.E. kaum wirksam, die Ökos wissen das sowieso besser. Und Fluor ist nun mal schlecht angesehen, das kann man nicht empfehlen. Da ist der Rat, spezielle Mineralwässer zu verwenden, sicher nützlicher. Es gibt etliche Mineralwässer auf dem Markt die namhafte Mengen Fluorid enthalten, und die Ökos sind nicht gebildet genug um das zu erkennen. Es wäre hier zielführend einmal die lokalen Öko-Märkte diesbezüglich zu prüfen, um herauszufinden, welche Mineralwässer ausreichend Fluorid enthalten. Dann kann man solche Wässer empfehlen, ohne jedoch den Grund der Empfehlung, nämlich den Fluoridgehalt, zu nennen.

Migranten

Zuwanderer haben – das liegt in der Natur der Sache – einen im Normalfall katastrophalen Mundbefund. Das Gastland (also die BRD) hat nun die undankbare Aufgabe im Rahmen der humanitären Hilfe „Gesundheit“ zu schaffen. Dabei stoßen wir mit unseren gängigen Prophylaxekonzepten rasch an Grenzen. Die Zuwanderer sind es gewohnt erst mit akuten schmerzen den Zahnarzt aufzusuchen, ihre Ernährungsgewohnheiten ändern sich schlagartig, da bei uns das begehrte Süße eben leichter verfügbar ist, und die häusliche Prophylaxe entspricht auch nicht unseren Vorstellungen.

Auf den Zustand bei Zuwanderung haben wir keinen Einfluss. Man kann jedoch die typischen Schwächen nutzen: es gilt als chic, Goldzähne zeigen zu können. Durch die Eingliederung von Goldkronen kann man den Gesundheitszustand zumindest hinsichtlich Karies stabilisieren. Und da Gold als Statussymbol gilt sollte man das auch privat abrechnen, das entlastet den Kassenetat. Füllungen sollten aus Amalgam, dem Material der Regel Versorgung, angefertigt werden, damit könnte ebenfalls die Karies gebremst werden.

Sozial Benachteiligte

Hier ist insbesondere auf Alkohol- und Nikotinabusus zu achten. Einschlägige wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass dies – leider – ein Hauptproblem bei sozial Schwachen und Langzeitarbeitslosen zu sein scheint. Auch hier bietet es sich an, Amalgam als Füllungsmaterial der Wahl einzusetzen: Alkohol eluiert aus Komposit zahlreiche Substanzen, die gesundheitsschädlich sind, jedoch insbesondere führt Alkohol zu Craquelierungen und zu Aufrauhungen der Oberflächen von Kunststoffen. Dies betrifft nebst Komposit auch und insbesondere die „normalen“ Prothesenkunststoffe, die dabei brüchig werden und zu einem vermehrten Reparatur Anfall führen. Rauchwaren verfärben die Zähne, und insbesondere Kunststoffe, wie Komposite, nehmen den braunen Farbton rasch an. Anstatt der von den Patienten dann gerne geforderten Neuanfertigungen wäre es zielführend Polituren vorzunehmen (kann die Assistenz machen), das entlastet den Etat und schont die Zahnsubstanz der Patienten.

Voraussetzung solcher patientenbezogener Therapieansätze ist naturgemäß die korrekte Zuordnung. Hier muss bereits bei der Erstaufnahme durch entsprechende Fragen anamnestisch  geklärt werden, ob man einen Angehörigen einer Hochrisikogruppe vor sich hat. Die korrekte Zuordnung muss regelmäßig reevaluiert werden, um beispielsweise eine Adaptation eines Migranten oder einen sozialen Aufstieg nicht zu verpassen. Um Einwänden vorab zu begegnen: es macht wenig Sinn ein theoretisches Konstrukt (alle sind gleich) gewaltsam aufrechtzuerhalten, wenn die Praxis andere Strategien erfordert. Bedenken wir: der Facharzt für Zahn- Mund und Kieferkrankheiten steht in der Verantwortung für Leben und Gesundheit seiner Patienten, und es ist stets individuell neu eine Entscheidung zu treffen, was das Beste für den Patienten ist. Und wenn es Amalgam ist, das dem Patienten in der speziellen Situation am besten hilft, so sollte man eben nicht in sturer Verweigerungshaltung beharren…

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