Orthorexia Nervosa

Ein neues Krankheitsbild:

Orthorexia Nervosa

 

Es ist ja prinzipiell zu begrüßen wenn Menschen sich Gedanken zu ihrer Ernährung machen, schließlich ist die Ernährung Grundlage von Gesundheit. Wer wüsste das besser als der Zahnarzt, der täglich die Folgen von Fehlernährung zu sehen (und behandeln) bekommt. Insbesondere Zucker in all seinen Facetten sorgt für gut 90 Prozent der zahnärztlichen Tätigkeit – dass Karies eine unmittelbare Folge von Fehlernährung ist hat sich in Fachkreisen längst rumgesprochen.

Allerdings haben wir dabei ein Riesenproblem: Ernährungslehre finden wir auf den Lehrplänen unserer Schulen leider gar nicht, Aufklärung findet da nicht statt. So sind die Menschen darauf angewiesen, sich selbst zu informieren. Und weil es in Deutschland keine verbindlichen Regeln gibt, werden wir mit Ernährungsliteratur zugemüllt. Jeder, der sich berufen fühlt, egal ob qualifiziert oder nicht, stellt seine „Weisheiten“ dem Publikum vor. Da inzwischen die Probleme immer offensichtlicher werden – Übergewicht bei gut 50 Prozent der Menschen in diesem Land können nicht mehr übersehen werden, obgleich ja inzwischen wegen political correctness ein Fetter nicht mehr als „fett“ bezeichnet werden darf -, teilen wir das Schicksal mit den Menschen der wohlhabenden Länder der „zivilisierten“ Welt. Überall machen sich Politiker Sorgen um die Folgen (enorm steigende Kosten des Gesundheitswesens, sinkende Lebenserwartung, Frühverrentung, usw.) dieser Fehlentwicklung, außer vielleicht in Deutschland, da schreibt man einfach vor, dass das Normalgewicht hochzusetzen sei, dann hat man ja weniger Übergewichtige.

Jedenfalls machen sich die Menschen selbst ihre Gedanken. Und weil wir keine echte Hilfe von staatlichen Stellen erhalten, werden täglich neue „Diäten“ vorgestellt, die unisono versprechen, man könne innerhalb weniger Wochen oder gar Tage (!) abnehmen, um zum „Idealgewicht“ zu kommen, was natürlich blanker Unsinn ist, aber, solche Versprechungen werden dankbar aufgenommen. Schließlich wird ja suggeriert, man müsse gar nicht so viel am persönlichen Lebensstil ändern.

Dazu kommt, dass die Industrie dankbar auf den Zug aufspringt und Schlankheitspillen ebenso anbietet wie „Diätkost“, die intensivst beworben werden, schließlich handelt es sich um einen stetig wachsenden Milliardenmarkt.

Parallel dazu kommen Aspekte aus der grünen Ecke, man solle den „Armen“ weltweit nicht alles wegfressen (dass die Nahrungsreserven abnehmen hat sich auch rumgesprochen), man solle das Klima schonen (Rinder stellen wegen der Methanausscheidungen ja ein Risiko dar!), Pflanzenschutz mittels Pestiziden wird von einer radikalisierten Minderheit (die an Zahl und Einfluss kontinuierlich zunimmt) als Teufelswerk angesehen (aktuelles Beispiel die Diskussion um Glyphosat), Gentechnik ebenso (obgleich aktuell ein Konvent an Nobelpreisträgern, die die Materie eigentlich ganz gut kennen sollten, gerade den Einsatz der Gentechnik bei der Nahrungsmittelerzeugung als unverzichtbar ansehen, soll die Nahrungsmittelproduktion weiter gesteigert werden, um die zunehmende Zahl an Menschen – 7,5 Mrd! Tendenz weiter rasch steigend! – weltweit irgendwie noch satt zu bekommen). Auch „Kunstdünger“ sieht man als Teufelswerk, Bio ist in, obgleich damit (natürliche Düngung mit Mist) eine enorme Belastung von Grund- und Oberflächenwasser einhergeht (Nitrateintrag!) und vergessen geglaubte Krankheiten fröhliche Urständ feiern (bakterielle Infekte durch bestimmte Stämme von Eschecherichia coli, Parasitenbefall – Spul- und Bandwürmer -, Listerien, usw.).

Auf eine breite naturwissenschaftliche Ausbildung wird verzichtet (auch in weiterführenden Schulen konzentrieren sich Pädagogen auf geisteswissenschaftliche oder musische Fächer, man kann Abitur auch ohne ein “richtiges“ naturwissenschaftliches Fach bekommen. Wissenschaft stößt auf breite Ablehnung (siehe „Bio“), der Arzt wird als „Schulmediziner“ abgewertet, man glaubt lieber dem esoterisch orientierten „Heilpraktiker“.

In diese Lücken stoßen dann die Scharlatane und finden dankbare Anhänger.

Weil es einer echten Wissensbasis nach wissenschaftlich erarbeiteten Kriterien mangelt – so etwas wie die USA mit der FDA (Food and Drug Administration) und Kriterien der WHO eher misstrauisch beäugt werden, haben sich quasi-religiöse Zirkel gebildet, die fanatisch ihren Glauben verbreiten. Da gibt es die Vegetarier, die Veganer, die Frutarier, die Rohköstler, die Anhänger der „Steinzeitkost“, usw. Die Anhänger dieser Religionen treten aggressiv in der Öffentlichkeit auf, verachten Andersgläubige, fühlen sich überlegen als „Elite“ und empfinden einen missionarischen Eifer, andere bekehren zu wollen. Nebst den o.a. Grundrichtungen haben sich enorm viele Nebenströmungen herausgebildet – all das führt zu einer zunehmenden Verunsicherung der Menschen, die die Heilsbotschaften dankbar aufnehmen.

Wie bei jeder religiösen Bewegung kann so etwas überlaufen und dann zu ernsten Erkrankungen führen – Mangelernährung in unserer reichen Gesellschaft treten schon wieder vermehrt auf.

Eine interessante Neuerscheinung zu diesem Thema („Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa“, Christoph Klotter, Julia Depa, Swenja Humme, Springer, Berlin, 2015) geht diesem Phänomen mit wissenschaftlichem Ansatz nach. Das neu beschriebene Krankheitsbild wird als Zwangsstörung beschrieben mit übertrieben „gesundheitsbewusstem“ Ernährungsverhalten. Es werden 15 spezifische Merkmale herausgearbeitet, insbesondere bestehe eine übermäßige Fixierung auf „gesunde Ernährung“ sowie eine fortwährende Beschäftigung mit dem Thema. Begleitet vom Wahn der gesunden Ernährung findet sich eine übermäßige Angst vor Erkrankung. Es wird ein rigider Ernährungsplan aufgestellt, bei Abweichung kann es zu Selbstbestrafung kommen. Die ideologische Einengung führt zu innerer Sicherheit und Überlegenheitsgefühlen – ganz wie wir es auch bei religiösen Bewegungen finden.

Das Ganze kann leicht wahnhafte Zustände annehmen – das geht so weit, dass die Lagerung im Kühlschrank abgelehnt wird, das Garen mittels Mikrowelle sowieso, wenn nicht das Garen von Speisen insgesamt, der Wahn treibt die Befallenen bis in die Selbstzerstörung.

Häufig führt diese Selbstkasteiung zu Untergewicht. Damit gehört das neue Phänomen zum Grobbild der Anorexia nervosa als Gegenpol zur verbreiteten Fresssucht, die zu Adipositas führt und ebenfalls als Essstörung angesehen werden muss. Die Autoren diskutieren, ob es sich um eine Essstörung oder eine Zwangsstörung handele bzw. eine Kombination aus beiden. Therapien solcher Störungen sind aufwändig und schwierig. Erste Therapieempfehlungen werden nebst Fallvorstellungen diskutiert.

Auch wenn sich das Buch an Psychotherapeuten wendet, kann es für den Allgemeinarzt bzw. Zahnarzt Hilfestellung geben – wir werden ja täglich mit Essstörungen aller Art konfrontiert. Insbesondere ist die Diskussion zu „Zucker“ oft frustrierend, weil gerade Essgestörte den vermeintlich gesunden „Honig“ als ungefährlich ansehen und die Ursache für ihre floride Karies überall suchen, nur nicht im falschen Essverhalten. So kommt es schon wieder gehäuft zu „Nursing Bottle Karies“ bei Kleinkindern – diesmal nicht durch gesüßte industriell gefertigte Kindertees, sondern durch das krankhafte Verhalten der Eltern…

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